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Die NRZ berichtete am 27. Mai 1995:

Rotkäppchen und die grünen Zwerge
manolo

Die Siedlung Ripshorster Straße ist wieder im Gespräch. Die Grundstückseignerin Thyssen hat für einige Häuser Abrißantrag gestellt, die SPD hat sich jüngst für Erhaltung und Ausbau ausgesprochen, die Bewohner kämpfen um ihre idyllischen Häuser, die sie sich zum Teil einst per Instandbesetzung erobert haben. Die "Ripse": Arbeitersiedlung, alternatives Anarcho-Nest, Gartenzwerg-Idylle oder städtebauliche Wertanlage - von allem etwas.

      Es war einmal (und ist noch immer) ein einsames Dorf tiet tief im Osten der Stadt. In einem düsteren Wald aus Stahlwerken Bahngleisen Und Industrieanlagen hat die Handvoll geduckter Arbeiterkaten dem Zementstaub und dem Krach der Industrie standgehalten. Zwar ist das eine oder andere von ihnen von einem bösen Bagger gefressen worden, aber 22 Häuschen haben die Jahre überdauert. Und siehe: Der Dornröschenzauber hebt sich. Das Gestrüpp der Industrie verschwindet, Das Dorf erblüht. Aber in ihm leben viele grüne Zwerge. Und als Rotkäppchen neben dem Dorf ein großes Haus für Großmutter und den Wolf bauen läßt, werden die Zwerge bose und beißen das Rotkäppchen ins Bein. Ein Gericht straft die Zwerge mit dem Urteil: Euer Dorf ist unbewohnbar.

      Ein Märchen ? Oder bloß ein schlechter Film ? Manolo Fernandez, der mit seiner Familie seit vielen Jahren in der Siedlung Ripshorster, Werk- und Thomasstraße zwischen Kanal und E-Stahlwerk lebt, findet die Siedlung heute alles andere als unbewohnbar: "Früher war hier alles viel dreckiger und lauter." Lange Jahre lagen die Arbeiterhäuser von 1899, aus den 1910 und 1920er Jahren unter dicken Lagen von Zementstaub, emittiert vom inzwischen abgerissenen Zementwerk an der Osterfelder Straße. "Sogar die Sahne auf dem Kuchen wurde dreckig". erinnern sich Bewohner.

      Heute aber verspricht die Entwicklungsperspektive der einstmals gottverlassen von Industrie eingekeilten Grundstücke durch die Nähe der Neuen Mitte, durch den derzeit angepflanzten Gehölzgarten des KVR und der Internationalen Bauausstellung richtig Rendite: Sollte irgendwann einmal das E-Stahlwerk schließen, ist die "Ripse" allerbeste Wohnlage. Immerhin hat die gute Fee SPD in dieser Woche ihren Zauberstab über der Siedlung geschwenkt: Die "Ripse" soll, so will es die Mehrheitsfraktion, nun doch erhalten bleiben.

      In den letzten Wochen hatte der Siedlung- wieder mal - der Abriß gedroht. Nachdem Volker Wilke, Grünen-Ratsherr und in der Bewohner-lnteressensvertretung RiWeTho tätig, jetzt die Anlage der Neuen Mitte juristisch überprüfen ließ, befand ein Oberverwaltungsgericht, die Siedlung stehe zu nah am E-Stahlwerk von Thyssen - Luftverschmutzung und Lärm gefährden angeblich die Bewohner. Die Stadt gab eine Ordnungsverfügung heraus, nach der freiwerdende Wohnungen nicht wieder belegt werden dürfen, und Thyssen Liegenschaften als Grundstückseignerin stellte einen ersten Abrißantrag für zwei Häuser, dem die Stadt zunächst einmal stattgab. "Eine Retourkutsche" wegen Wilkes Klage gegen die Neue Mitte, schimpfen die Bewohner.

Kind mit Kinderwagen      Etwa 250 Menschen wohnen in der Siedlung, manche seit Jahrzehnten. Viele von ihnen sind Arbeiter oder Rentner von Thvssen. An der Werkstraße i.st der Anteil ausländischer Familien besonders hoch. Und an der Ripshorster Straße selbst, oh Schreck, leben Hausbesetzer.

      Jochen Kappenberg, Ralf Brunotte und Karl-Heinz Kohnen gehören dazu. Hausbesetzer waren sie zumindest im Juni 1979, als Thyssen die Häuser schon einmal abreißen lassen wollte. In die "von Rollkommandos", so Kappenberg, bereits fast unbewohnbar gemachten Arbeiterhäuschen drangen die jungen Leute ein und fanden bald Unterstützung bei der Stadt - "auch bei Politikern wie dem damaligen Juso-Vorsitzenden Michael Groschek", erinnert sich Kappenberg. Seit 1983 haben sie Mietvertrage, und ihre Wohnungen und Gärten sehen fast so aus wie jede beliebige deutsche Wohnsiedlung. Einbauküchen und frisch gekachelte Bäder in den 54 Quadratmeter großen Wohnungen, Gemüse im Garten und Geranien vor dem Fenster. Einige Türen und Fensterrahmen sind bunt angestrichen. Und daß das eine oder andere Autowrack am Straßenrand steht, nervt manche von uns hier auch", sagt Kappenberg. Aber damit müsse man leben, schließlich werde an der "Ripse" Toleranz großgeschrieben. Die Bewohner-Struktur der Siedlung bietet immerhin noch problemlos Platz für Menschen, die anderswo anecken würden.

      Auch vom Vermieter Thyssen Liegenschaften wurden die Bewohner jahrelang in Ruhe gelassen. Notwendige Reparaturen an den inzwischen reichlich angekratzt wirkenden Häusern seien nur mit Rechtsanwälten "durchzudrücken" gewesen, berichtet Brunotte. Vieles mußten die Bewohner selbst machen. Andererseits habe ihnen der Vermieter für 3,20 Miete pro Quadratmeter auch die Freiheit gelassen, "zu tun und lassen, was wir wollen".

Werkstrasse      Einstmals hat die Siedlung auch noch Häuser an der Osterfelder Straße, eine Konsumanstalt, eine Kleinkinderbewahranstalt und ein Ledigenheim umfaßt. Pläne aus den 20er Jahren, die Siedlung zu erweitern, waren wegen der Weltwirtschaftskrise nicht ausgeführt worden. Den architektonischen Wert der typischen Jahrhundertwende-Arbeiterhäuschen im Kreuzgrundriß an der Ripshorster Straße sowie der reich gegliederten Meister-Häuser an der Werk- und Thomasstraße erkennen Wissenschaftler längst an: Kappenberg, der gerade erst wieder eine Delegation der Saarbrücker Uni durch seine Wohnung geführt hat: "lch komme mir schon vor wie im Museum." Andererseits ist auch seine Begeisterung für die Geschichte der Siedlung erwacht; er sammelt alte Fotos und interviewt Zeitzeugen.

      In einem städtebaulichen Wettbewerb von 1991 haben Architekten interessante Modelle für eine neue Nutzung unter Beibehaltung der bestehenden Häuser entworfen. Das mit einem ersten Preis ausgezeichnete Modell des Herdecker Büros Grüneke greift dabei in weiten Teilen den alten Plan aus den 20er Jahren mit etwas dichterer Wohnbebauung als damals angedacht auf "Das wäre ein gutes Projekt«, lobt Kappenberg den Grüneke-Plan. Die Bewohner könnten sich eine Realisierung mit preiswertem Wohnungsbau gut vorstellen, lockt der RiWeTho-Verein in einem Flugblatt. Auch eine genossenschaftliche Verwaltung der "Ripse" - wie in der Duisburger Rheinpreußen-Siedlung wäre, so Kappenberg, ein gangbarer Weg. Auf ihrer Klausurtagung hat die SPD in dieser Woche bekanntgegeben, daß sie eine preiswerte Wohnbebauung auf den freien Grundstücken der "Ripse" will - ohne Kosten für die Stadt natürlich. Aber unter Erhaltung der bestehenden Häuser. Denn: "Sicher ist, daß das vorhandene Wohngebiet ein Kulturgut hoher Qualitat darstellt und auf jeden Fall schützenswert ist", so der Preisträger Grüneke schon 1991.

      Das Märchen um die "Ripse" ist also noch nicht zuende. Sie hat schon oft sterben sollen. Weil sie nicht totzukriegen ist, lebt sie noch heute.




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